Mein Mauerweglauf 2018

20:11

Wie alles begann

Im August 2015 las ich auf Twitter, dass Chris von den Flitzpiepen, für seinen Teil der Vierer Staffel beim Mauerweglauf noch eine Begleitung suchte. Einfach so, zum quatschen. Er lief den ersten Teil gegen den Uhrzeigersinn, vom Start bis Hennigsdorf. Ich meldete mich bei ihm und so lernten wir uns am Naturschutzturm Hohen Neuendorf persönlich kennen.


Ich begleitete ihn bis Hennigsdorf, lief noch ein Stück weiter bis zum Grenzturm Nieder Neuendorf und dann wieder den gleichen Weg zurück. Die Läuferinnen und Läufer, die mir entgegen kamen, strahlten. Zum ersten Mal sah ich Sigrid Eichner, wusste aber nicht, welche Laufpersönlichkeit da eben an mir vorbei lief. Auch sie lächelte, als ich ihr, wie allen anderen, einen schönen Lauf wünschte.

Die Stimmung an den Verpflegungspunkten (VP) und unter den Läufern gefiel mir. Ich empfand ein positives Gefühl und dachte mir, dies muss eine gute Veranstaltung sein. Dann sah ich das 100 Meilen Berlin Flatterband als Wegweiser an einem Baum. Ich nahm es ab und sagte mir: "Irgendwann nehme ich an diesem Lauf teil." Zu dieser Zeit lief ich nicht mal zwei Jahre. Das Band hängt immer noch bei mir an der Wand.

2016 lief ich dann den ersten Teil der 2er Staffel, 91 km, und im letzten Jahr war als Einzelstarter nach knapp 100 km verletzungsbedingt der Lauf vorbei. Dieses DNF - Did not finish - ging nicht aus meinem Kopf. Wie eingenistet lag es dort. Speziell in den ersten Wochen danach hatte ich damit zu kämpfen. Es war also noch eine Rechnung offen, die es 2018 zu begleichen galt.


Abholung der Startnummer

10. August 2018
Die Startnummernausgabe war ein Treffen mit vielen bekannten und neuen Gesichtern. Eine ausgelassene Stimmung und viele Gespräche steigerten meine ohnehin schon vorhandene Vorfreude. Beim Briefing und der Streckenerklärung setzte ein Bauchkribbeln ein. Insgesamt bin ich den Mauerweg schon gelaufen. Aber noch nie am Stück. Nach dem Briefing noch kurze Gespräche hier und da, um anschließend zu meiner Schwester Doreen und ihrer Familie zu fahren, die Dropbags zu packen und Ruhe zu finden.



Das Rennen

11. August 2018
Um 3:15 Uhr klingelte der Wecker, um: 4:30 Uhr waren wir im Stadion. Doreen wurde als Volunteer in ihre Aufgaben eingewiesen und ich frühstückte. Es wurde zusehends voller, Alexander von Uleniecki und Itta Olaj übernahmen die Moderation und um 5:50 Uhr gingen wir in den Innenraum des Stadions. In wenigen Minuten werden wir auf die Strecke von 161,90 Kilometern geschickt und ich bin erstaunlich entspannt.

Drei, three, zwei, two, eins, one, Start. Die obligatorische Stadionrunde, vorbei an vielen winkenden und klatschenden Händen. Ein kurzer Stopp bei Andrea und weiter. Was für ein Auslauf, was für eine Stimmung.
Ist die Ampel rot, wird gewartet und ich habe dieses Mal sehr häufig warten müssen. Drei oder viermal konnte ich in dieser Zeit Fragen von neugierigen Menschen beantworten. Warum laufen wir heute? Wofür und für wen? Speziell Unter den Linden hatte ich viel Zeit für Antworten. Die vielen Fragen und das große Interesse zeigen mir auch, das es richtig und wichtig ist, zu erinnern. Die Geschichte der Berliner Mauer und deren Schicksale dürfen nicht in Vergessenheit geraten.

“We don't need no education, we don't need no thought control…” Pink Floyd hämmerte aus den Lautsprechern am Checkpoint Charlie, als wir in das asisi Panorama geleitet wurden. Dieses überdimensionale 3D Bild ist immer wieder überwältigend anzuschauen.
Wer durch die Kreuzberger Straßen läuft und ab und zu nach unten schaut, kann den Abstand zwischen Mauer und Wohnhäuser anhand des Streifens aus Pflastersteinen erahnen. Die Haustür wurde geöffnet und man stand direkt vor der Betonwand.

Die nächsten Kilometer entlang der East Side Gallery, Oberbaumbrücke nach Treptow rein, vergingen schnell und dann war ich schon an der Stelle, wo Jörg Hartmann geehrt wurde. Zehn Jahre jung war er, als erschossen wurde. Er war das bisher jüngste bekannte Maueropfer. Der Moment des innehalten war sehr bewegend für mich. Das aufgestellte Spielzeug an der Gedenkstätte verdeutlichte mir wieder das, sobald es um Kinder geht, nichts schwerer zu ertragen ist.
Ich machte auch wieder einen kurzen Stopp an der Stelle, wo an Chris Gueffroy, das letzte Maueropfer, erinnert wird.

Die nächsten knapp sieben Kilometer ging es nur geradeaus am Teltowkanal entlang und ab Km 25 wurde ich für 15 Kilometer von Jens begleitet, der dort auf seiner Hausstrecke unterwegs war.

Am Vorabend sagte Eckhard beim Briefing, das wir uns auf den Dörferblick freuen können. Ein Blick bis nach Berlin rein. Er sollte recht behalten, was für ein Ausblick. Zur rechten Seite Berlin, zur linken der sauberste Flughafen der Welt.
In Buckow wurde Leierkasten gespielt und am VP 7 wurde aufgetischt, wie man Verpflegungspunkte nur selten sieht. Wie soll man sich motivieren, von dort wieder aufzubrechen?
Am VP 8 wurden alle mit Trommelwirbel empfangen. Matze, der immer noch sehr frisch aussah, holte mich ein und ich bekam Besuch. “Hi Klobi”, hörte ich eine mir bekannte Stimme sagen. “Anne”, freute ich mich. Meine liebe Kollegin und ihr Freund hielten mich die nächsten 20 Kilometer mit Gesprächen bei Laune und machten den Königsweg um einiges erträglicher. Die legendäre Glienicker (Agenten) Brücke lag hinter mir und die Meierei war nicht mehr weit. Ein frisches Bier wartete auf mich.
Nach dem es zischte, wartete das unangenehmste Teilstück auf mich. Von der Meierei bis Schloss Sacrow. Egal, was ich vorher oder während des Laufes versuchte, ich konnte mir dieses Stück nicht schön reden. Zwölf Kilometer und unangenehme Anstiege, für die ich über zwei Stunden brauchte.
Mir kamen die Gespräche mit Interessierten / Neugierigen an den Ampeln in den Sinn. Die Reaktionen waren meistens überwältigend, zustimmend und anerkennend. Mir fiel auf, das der  Mauerbau und seine Geschichte nicht oder nicht mehr sehr präsent sind in vielen Köpfen. Um so wichtiger ist es dafür zu sorgen, das dieses Kapitel nicht in Vergessenheit gerät.
Nach einer ausgiebigen Pause lief ich in die Nacht hinein und freute mich sehr, Nico als Fahrradbegleitung an meiner Seite zu wissen, der mich gesund durch die Nacht bringen sollte.
Nur noch 70 Kilometer. Ich versuchte in kleinen Schritten zu denken, von Verpflegungspunkt zu Verpflegungspunkt. Wenn die nur nicht so weit auseinander wären. Pagel and Friends bot auch zu später Stunde noch einiges an, zum Beispiel Brühe mit Nudeln. Lecker.
Mit fortgeschrittener Stunde wurde es immer kälter und ich immer müder. Eine Zwickmühle. Ruhte ich mich aus, fror ich, also versuchte ich, in Bewegung bleiben. Mehrere Male fiel ich beim Gehen in den Sekundenschlaf, zweimal lief ich in Nico sein Fahrrad. Nichts passiert, außer mich erschrocken zu haben. Die Augen brannten, sie aufzuhalten fiel immer schwerer. Ich wartete darauf, diesen Punkt endlich zu überwinden. Ich musste mich immer wieder hinsetzen, aber zwölf Grad in der Nacht ließen mich sofort wieder frieren. In den Bäumen und Sträuchern sah ich viele verschiedene Figuren, erschaffen von den Schatten unserer Lampen. “Es reicht, reiß dich zusammen.”, rief ich mich zur Ordnung.

Nico ließ mich irgendwann nicht mehr ruhen, stattdessen sagte er, ich könne mir meine Minuten Schlaf für Hennigsdorf verdienen. Um so schneller ich laufe, desto mehr Minuten habe ich in Hennigsdorf zur Verfügung. Das war fair. Wir beobachteten Sternschnuppen und blieben in Bewegung.

Den letzten Kilometer zum VP Nieder Neuendorf zog ich aus dem Nichts das Tempo an und legte einen Sprint hin. Rechts konnte ich die aufgehende Sonne sehen und Hennigsdorf war nicht mehr weit. Dort angekommen (4:55 Uhr) wartete die Liege auf mich, kalt und feucht, Zeltplatzgefühl. Die Helfer kümmerten sich, deckten mich zu. Wann immer ich hier von schlafen schreibe, ist das natürlich nur dösen, ruhen. Viel Zeit hatte ich nicht, denn ich war meinem Zeitplan 2,5 Stunden hinterher, Hennigsdorf schließt um 5:45 Uhr.

Es war 5:15 Uhr als Beate mit einem Sprung und Besen in der Hand vor uns stand. Ihr “Guten Morgen” klang wie ein Wecker, der den Arbeitstag einläutet. Ich fragte, wann sie losläuft, um 5:45 Uhr. Das war mein Startschuss. Beate ist ganz gewiss eine liebe Frau, aber ich wollte sie bis zum Stadion nicht wiedersehen.

Vom VP Frohnau hat man einen wunderbaren Blick auf die Laufstrecke. Und da war viel Bewegung. Wir konnten alle Läuferinnen und Läufer sehen, die vor 45 Minuten noch wie ein nasse Säcke in Hennigsdorf saßen. Nico und ich mussten über diesen Anblick lachen. Beate war als Besenläuferin also nicht nur mein Weckruf.
Am Morgen in Hohen Neuendorf
Die Sonne wärmte uns und mit ihr kam die Energie zurück. Die folgenden VPs nutzten wir nur noch für Trinkpausen und ich dankte fürs durchhalten. Ein kurzer Stopp beim Bäcker, ein Wasser am VP Oranienburger Chaussee, nur noch 18 km. Nur noch 18! Das gab mir nochmals einen Schub.

Mittlerweile kassierten wir viele Läuferinnen und Läufer ein. Ich hätte nicht gedacht, das noch so viele vor uns unterwegs waren. Die Erhöhungen in Lübars ging ich, am VP Wilhelmsruh erfrischte ich mich und zog mich ein letztes Mal um.

Am letzten Verpflegungspunkt am S-Bahnhof Wollankstraße stand Martin, welche eine Freude ein bekanntes Gesicht zu sehen.
Kurz vor dem Ziel
Noch vier, zwei, ein Kilometer. Hinter der Max Schmeling Halle stand Doreen, sie lief später die Stadionrunde mit. Das tat Nico auch, jedoch mit dem Fahrrad auf dem Rücken. Dieser Anblick war unglaublich, wie ich später auf einem Video sah. Radbegleitung bis zum Schluss. Toll. Ich erinnere mich noch daran, das es mit dem einlaufen ins Stadion ziemlich laut wurde. Meine Familie war dort, meine Eltern, liebe Menschen, die mir die Daumen drückten, mich unterstützten und an mich glaubten.
Ich zog das Tempo nochmals an und wollte den Lauf nur noch beenden. Alles zuvor erlebte war mit einem Mal nicht mehr vorhanden. Keine Müdigkeit mehr, keine schweren Beine.
Hinter der Ziellinie sah ich meine Frau, meine Kinder, meine Eltern und Schwester. Auch Andrea war dort. Ich holte mir unterwegs via Doreen einen Tipp von ihr und natürlich half dessen Umsetzung.

Wie oft habe ich mir auf langen Trainingsläufen oder auch während der 100 Meilen vorgestellt, wie ich die Ziellinie überquere. Ein Ziel  das so weit weg war und nun zum greifen nah ist. Der ganze Lauf spielte sich in Bruchteilen von Sekunden vor meinen Augen ab, während ich dem großen 100 Meilen Banner immer näher kam.

Mit Tränen in den Augen lief ich schließlich über die Ziellinie in die Arme meiner Frau und wollte sie nicht mehr loslassen.

Nach den Glückwünschen meiner Familie überreichte mir Andrea das Finisher Shirt. Was für eine Freude.
Ich bin in 28 Stunden und 54 Minuten 100 Meilen gelaufen. Noch nie lief ich so weit. Seit irgendwann in der Nacht immer 30 Minuten dem Cut-Off voraus (zum Ende etwas eindeutiger), aber das kannte ich aus Ungarn vom Etappenlauf, nur etwas knapper. Mit den dort gemachten Erfahrungen konnte ich mit diesem Zeitdruck gut umgehen.

Nach der Dusche arrangierte Andreas einen Transport zum Hotel zur Siegerehrung, durch die Alex und Itta wieder souverän führten. Nach bewegenden Worten von Rainer Eppelmann, dem Schirmherr dieser Veranstaltung und Ursula Mörs, der Lehrerin von Jörg Hartmann, erhielt ich freudestrahlend meine Medaille und für mich war damit das Rennen physisch vorbei. In Erinnerung wird es mir aber ewig bleiben. Es ist wie mit dem ersten Marathon, den vergisst man auch nie.



Dankesworte

Ich danke meiner lieben Frau und den Kindern, die mich, um dieses Ziel zu erreichen, grandios unterstützten.

Danke Jens für die Begleitung über 15 Kilometer.

Anne und Olli, für eure Begleitung von knapp 20 Kilometern. Das war zu diesem Zeitpunkt mehr als hilfreich.

Andrea, danke für deine Unterstützung. Selbst beim Mauerweglauf, wo du selbst viel zu tun hattest, konnte ich auf dich bauen.

Vielen Dank allen Volunteers, die über Tage und Nächte großartiges leisteten, mir liebe Worte mit auf dem Weg gaben und immer hilfsbereit waren.

Danke dem Orga Team für die Ausrichtung der 100 Meilen Berlin.

Nico, was du in der Nacht geleistet hast, war und ist immer noch unbeschreiblich. Ich spielte mit dem Gedanken, komplett alleine zu laufen. Schon am Abend in Sacrow wusste ich, das dies wohl mein größter Fehler gewesen wäre.

Dankeschön an alle im Familien-, Freundes-, oder Bekanntenkreis, die mich unterstützten und / oder die Daumen drückten.

Das war meine letzte Teilnahme bei den 100 Meilen Berlin. Im nächsten Jahr stehe ich dann auf der anderen, auf der Helferseite, und spreche euch gut zu.

Danke fürs Lesen und bleibt gesund!

Sport frei,

René


Es folgen alle Bilder, nicht sortiert.

Ausruhen vor der Siegerehrung im Hotel

Moderation Alexander von Uleniecki

Rede von Rainer Eppelmann




Blick vom Dörferblick


Entwicklung meiner Mauerwegläufe. Staffel o. l. 2016, u. l. Abbruch 2017 und groß 2018



Zieleinlauf

Bei Pagel und Friends





Willkommen am VP 8



















Beinpflege in Teltow


Dreilinden und Sigrid Eichner im Anmarsch :)


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