100 Meilen Berlin 2017

14:23

Die knapp 6,5 Stunden Schlaf von Freitag zu Sonnabend waren für mich erholsamer, als die acht Stunden in der Nacht zuvor. Trotzdem war es kein Vergnügen, als mich der Wecker um 3:50 Uhr aus dem Schlaf riss. Noch zwei Stunden und zehn Minuten bis zum Start der 100 Meilen, dem Mauerweglauf, Lauf gegen das Vergessen. Vergessen? Kann man dieses Kapitel vom Mauerbau bis zum Fall am 9. November 1989 vergessen? Oder anders gefragt, kann diese Zeit in Vergessenheit geraten? Der Bericht eines regionalen Senders, der jüngere Menschen befragte, zeigte mir, dass das Bildungssystem, aber auch Eltern und Großeltern, hier dringend handeln sollten. Die Antworten auf einige der gestellten Fragen waren, sofern es denn welche gab, eher nicht gut.


Meine am Donnerstag und Freitag vorbereiteten Beutel, die Dropbags, packte ich nochmals um, nach dem ich mir die Wettervorhersage anschaute. Was in die Beutel reinkommt, die dann vom Veranstalter zu den Wechselpunkten gefahren werden, sollte gut überlegt sein. Wie oft ich die gepackten Beutel zu Hause kontrollierte, weiß ich nicht mehr. 4:20 Uhr, noch eine Stunde und vierzig Minuten bis zum Start um 6 Uhr. Der Kaffee schmeckt, der Keks auch, aber mehr geht gerade nicht rein. 

Bei der Startnummernausgabe am Freitag traf ich viele Bekannte Gesichter, lernte neue Lauf-Freunde kennen und traf einige, die ich schon länger nicht mehr gesehen hatte.


Das anschließende Briefing fand ich interessant, machte neugierig auf den Lauf und steigerte nun meine nicht mehr zu verbergende Aufregung. Ronny und Nico nahmen ebenso an der Veranstaltung teil, was für Radfahrer obligatorisch ist. Nicht nur für die Läufer_innen, auch für die Begleitung gibt es viel zu beachten und zu befolgen.
Direkt danach wurde ich zu meiner Schwester und Familie gefahren, organisierte mich neu und verschwand kurz darauf ins Bett.
Ich hatte den Luxus, mit all meinen Sachen direkt zum Stadion gefahren zu werden. Meine drei Beutel gab ich ab, ging zum Frühstück und traf kurz darauf Claudia, die auch auf die volle Distanz ging. 

Noch dreißig Minuten. Unglaublich viele Leute so früh am Morgen mit ausgesprochen guter Laune. Die eingespielte Musik lenkte ab. 5:50 Uhr wurde das Stadiontor geöffnet und wir bewegten wir uns zum Start. Der Countdown lief und schon begann das Rennen.... Apropos Rennen. Vor fast jedem wichtigen Lauf schauen wir zu Hause den Film "Sein letztes Rennen". Das ist für mich immer eine große Motivation. Sehr bewegend finde ich, wenn Paul (Dieter Hallervorden) im Fernsehstudio sitzt und in seinen Gedanken verloren sagt: "Das ganze Leben ist ein Marathon. Die ersten Schritte fallen dir noch leicht, du glaubst, nichts kann dich stoppen. Aber dann kommen die Schmerzen, deine Kräfte schwinden, Meter für Meter. Du glaubst, du kannst nicht mehr, aber du läufst weiter. Immer weiter, bis zur totalen Erschöpfung. Und am Ende steht der Sieg. Ganz sicher, der Sieg." 




Über 380 Läufer_innen setzten sich in Bewegung und nach etwas mehr als einer halben Stadionrunde verließen wir unter Applaus und leichtem Regen selbiges via Gleimstraße Richtung Bornholmer Straße.

Ich empfand die ersten zwei bis drei Kilometer als ziemlich ruhig. War es die Uhrzeit oder war es die Anspannung? Das Teilnehmerfeld zog sich nach und nach auseinander und ich fand meinen Rhythmus. In Gedanken ging ich die letzten zwölf Wochen durch, die sehr vom Training geprägt waren. Achthundert Trainingskilometer steckten mir in den Beinen und ich fühlte mich gut. Ich war fit. Der erste Verpflegungspunkt (VP) war schnell erreicht und nach einem Schluck Wasser lief ich weiter. Nur drei Kilometer später wurden wir mit Rosen erwartet, um Dorit Schmiel zu gedenken, die am 19. Februar 1962 bei einem Fluchtversuch angeschossen wurde und später im Krankenhaus ihren Verletzungen erlag.

Weiter ging es im Sprühregen Richtung Lübars. Diese Strecke lief ich auch im Training bei blauem Himmel und Sonnenschein und es sah bei weitem schöner aus. Normalerweise sage ich, das Wetter können wir nicht ändern. Heute hätte ich es mir gewünscht. Pünktlich erreichte ich nach ca. 2:20 Stunden den VP 3, wo ich Chrissi und Chris von den Flitzpiepen traf und Ronny, meine Radbegleitung bis Schloss Sacrow. Auf den nächsten Kilometern erzählte ich Ronny vom bisherigen Lauf und schon erreichten wir den VP 4 Naturschutzturm. Hier steht einer der wenigen erhaltenen Wachtürme auf dem Mauerweg. Auch sehr beeindruckend war das Verpflegungsangebot. Genauso vielfältig wird es sich an allen folgenden Verpflegungspunkten präsentieren.

Die Strecke nach Frohnau zum VP 5 war schön, bis auf den immer stärker werdenden Regen. Es war ja nicht nur der Regen, der störte, es war auch die Kälte. Mit Jacke zu warm, ohne Jacke teilweise frisch. Die Strecke lief ich vor zwei Jahren mit Chris. Da waren es 35 Grad. Zugegeben, die brauchte ich heute auch nicht. VP 6 war gleichzeitig der erste Wechselpunkt. Nicht für mich. Ich nahm trockene Shirts, Socken und Schuhe aus dem Beutel und Ronny verstaute alles. Ich wollte mich erst umziehen, wenn es nicht mehr regnete. Weiter nach Nieder Neuendorf, VP7. Dort stand wieder ein Wachturm. Vor zwei Jahren war ich dort oben. Der Ausblick war damals wirklich schön. Blick aufs Wasser, viel Grün. Diesmal verzichtete ich auf einen Aufstieg. “In dreißig Minuten hört es auf zu regnen.”, sagte das Berliner Vollmond-Marathon Team, welches diesen VP betreute. Ich wünschte es mir so sehr. Jammern hilft nicht, weiter.

Bis nach Schönwalde zog es sich und doch freute ich mich so sehr auf diesen VP. Doch bevor ich ihn erreichte, hieß es vorsicht beim Seitenwechsel der Schönwalder Allee. Es gab Autofahrer mit und ohne Verständnis für Läufer. Teilweise sah es gefährlich aus, wie die Straße überquert wurde. Endlich war ich da und sah sie aus der Ferne: Meine Frau. Das war Motivation. Zwei weitere Helfer-Elfen, die ich kannte und ziemlich viel Einsatz zeigten, waren Kathleen und Melli. Auch euch zu sehen war mir eine Freude. Ihr, und das betrifft alle Helfer von A bis Z, habt allesamt einen fantastischen und manchmal bestimmt nicht einfachen Job gemacht. Vielen Dank dafür. 

Da es nur noch ganz leicht nieselte, zog ich mich um. Dieses Gefühl, in trockenen Sachen weiterzulaufen war unbeschreiblich. Schuhe, Socken, Shirts - wie ein Neustart. Die Kilometer 48 und 49 lief ich wieder in meiner vorgenommenen Pace. Der Weg führte auf und ab, zwischendurch regnete es wieder, wenn auch nur kurz und zwischen dem 50. und 51. Kilometer verspürte ich ein kurzes, aber heftiges ziehen auf der rechten Seite zwischen Oberschenkel und Becken. An laufen war nicht zu denken, also erstmal im Gehmodus die nächsten Kilometer. Am VP 9 habe ich ein paar Übungen gemacht, die Ronny in der Zwischenzeit von Trixi erhalten hatte. Das ziehen ließ nur kurzzeitig nach, immerhin konnte ich mich im Run & Walk Modus fortbewegen. Das brachte mich wieder etwas voran - vorerst. Es gab mittlerweile kurz, aber heftige Steigungen von mehr als acht bis zehn Prozent, die ich auch ohne Schmerzen nur hätte gehen können. VP 11 war dann der VP, auf den sich alle, die ich kenne und mit denen ich gesprochen hatte, freuten: Pagel & Friends. Ich wurde mit Namen begrüßt, die Musik war Spitze und es gab Suppe mit Nudeln und Getränke. 

Ich setzte mich und schaute zur Massageliege rüber, da die Schmerzen nicht weniger wurden. Ich erklärte dem Physio was passierte und er fand sofort die Punkte, die mir Probleme bereiteten. Ich lag auf der linken Seite und freute mich, dass die Musik so laut war. Bei jedem Druck von ihm, schrie ich innerlich vor Schmerzen und manchmal auch nach außen. Zehn Minuten, die mich fertig machten, in der Hoffnung, wieder normal laufen zu können. Ich versuchte, aus dem Gehen heraus wieder in den Laufrhythmus zu finden, aber es fiel mir schwer.

Schloss Sacrow erreichte ich mit einer Stunde Verspätung. Bis Km 50 war ich immer mit einem Zeitpuffer unterwegs. Und nun? Egal, ich war noch im Spiel. Eine ausgiebige Pause Sacrow gab mir neuen Schwung. Ich traf Bart und seine Tochter (liebe Grüße), meine Schwester und Ronny (danke, es war mir wieder ein Vergnügen) war nun erlöst, dafür stieg nun Nico ein.
Die nächsten Kilometer lief ich wieder unter acht Minuten, was für eine Freude. Ein kurzer Stopp am VP13 Revierförsterei Krampnitz und gleich weiter zur 14 - Brauhaus Meierei. Auf das Bier verzichtete ich, weiter Richtung Glienicker Brücke. Der Himmel war mittlerweile blau, die Sonne wärmte mich und alles sah gleich viel freundlicher aus. Laufen, gehen, laufen, gehen, das war mein Plan und den konnte ich gut umsetzen, trotz immer wiederkehrender Schmerzen. Griebnitzsee war die Pause wieder nur kurz, vor mir lag der Königsweg. Der nicht enden wollende Königsweg.
Fünf lange Kilometer immer geradeaus. Die Nachtausrüstung war mittlerweile angelegt und es fing wieder an zu regnen. Das gab mir den Rest. Mir war kalt, ich hatte wieder starke Schmerzen, mein Bauch fühlte sich aufgebläht an, hatte Kreislaufprobleme und legte mich kurz auf den Weg. Ich zitterte am ganzen Körper und bin das frieren nicht mehr losgeworden. Nico stützte mich bis zum nächsten VP. Immer wieder sagte ich, mir ist so kalt. Am VP angekommen, setzte ich mich in einen Stuhl, bekam eine Decke und noch eine und später noch eine. Die Tomaten, die ich am Griebnitzsee mit etwas Salz zu mir nahm, sah ich wieder, mein aufgeblähter Bauch entleerte sich. Es war mir unangenehm, aber tat mir gut. Auf den letzten paar Metern vor dieser Pause einigten wir uns darauf, den Lauf zu beenden. Nun saß ich im Stuhl und bat auch gegenüber den Helfern um kurze Bedenkzeit, eigentlich totaler Blödsinn, aber es fiel mir so schwer, meinen Transponder abzugeben. Wie ein kleines Kind, das sein Spielzeug nicht abgeben möchte. Ich wusste sehr wohl, dass ich nur mit Schmerzen weiterlaufen konnte. Ich wusste auch, dass sich die Nacht ewig ziehen würde. Ich rechnete nach und selbst mit einer Pace von über elf Minuten würde ich noch das Ziel erreichen. All diese Gedanken spielten sich in wenigen Sekunden in meinem Kopf ab. Hätte, wenn und aber… Schluss! 
Während wir auf meine Schwester warteten, die uns nach Hause fuhr, machte ich es mir in den mittlerweile zwei Stühlen bequem, schloss immer wieder mal meine Augen und erfreute mich an den nach mir kommenden Sportlern, inklusive dem Besen Team. Nico unterhielt das Team grandios :)
Zunächst war ich traurig, es nicht geschafft zu haben, aber dann kam irgendwann die Freude, eine neue Bestweite gelaufen zu sein. 98,6 Kilometer standen auf der Uhr. Fast 100 Kilometer. Das ist so unglaublich viel…

Nun schaue ich nach so vielen lieben Kommentaren und persönlichen Worten voller Zuversicht nach vorne und freue mich auf neue Herausforderungen. Die rechte Seite ist mittlerweile wieder ok, die Schwellung schnell wieder abgeklungen. Ich möchte den Beitrag nicht beenden, ohne mich bei ganz vielen Leuten zu bedanken. An erster Stelle steht meine Familie. Danke für eure grandiose Unterstützung. Ihr seid mein Rückhalt und ohne euch funktioniert so ein (Trainings) Umfang nicht. Meine Schwester, die an diesem Tag über 150 Kilometer fuhr, um mich von A nach B und C zu fahren und auch Nico chauffierte. Alle anderen Familienmitglieder und Freunde und Bekannte, die mir Mut machten, die Daumen drückten und mich ebenfalls unterstützten. Allen Verantwortlichen und Volunteers, die alles gaben, um diese Veranstaltung zu dem zu machen, was sie am Ende war - ein großer Erfolg.


Der Lauf in Zahlen: Distanz: 98,6 km Zeit: 15:44:51 (h:m:s) Pace: 9:41 min/km Kalorien: 7344 In diesem Sinne, Sport frei, bleibt gesund, René 

Folgend noch ein Video vom Lauf mit einigen Gedanken.


Hier geht es zu einem kurzen Artikel über mich in der MAZ-Online: Laufen am körperlichen Limit

Vielleicht magst du auch

0 Kommentare

Vielen Dank für den Kommentar. Dieser wird schnellstmöglich freigeschaltet.